Technische Artikel

Ein Modell bringt die Lösung

Von Jack Wilber, MathWorks


Am 14. Januar 2005 beobachtete ein Ingenieur besonders nervös, wie die Sonde “Huygens” ihren Abstieg zum Titan, dem größten Saturnmond begann. Wie viele seiner Kollegen, die an dem Gemeinschaftsprojekt von NASA beteiligt waren, hatte auch der Systemingenieur Luitjens Popken jahrelang am Erfolg der Cassini-Huygens-Mission mitgearbeitet, die den Saturn und seine Monde erforschen sollte. Nur einige Wochen zuvor war Huygens von Cassini abgekoppelt worden. Danach hatte sich die Sonde auf den Weg zum Titan gemacht, um dort an einem Fallschirm zu landen und den Wissenschaftlern detaillierte Informationen über die Atmosphäre und eindrückliche Aufnahmen von der Oberfläche des Mondes zu liefern.

Fünf Jahre vorher hatte das Missionsteam allerdings einen gefährlichen Fehler in der Implementierung des Kommunikationssystems entdeckt, der sich nicht ohne direkten Zugriff auf die Hardware korrigieren ließ. In wenigen Stunden sollte Popken nun erfahren, ob sein Versuch, die Mission vor dem Scheitern zu bewahren, geglückt war. In Kürze sollte Huygens nämlich beginnen, Daten der Kameras und der anderen wissenschaftlichen Instrumente an den Cassini-Orbiter zu übermitteln. Die Mission war nur dann erfolgreich, wenn Cassini diese Daten empfangen und sie anschließend an die Wissenschaftler weiterleiten konnte, die im Kontrollzen-trum gespannt darauf warteten. „Wir haben uns in der Kantine versteckt und von dort die Fernsehübertragung aus dem Kontrollraum verfolgt“, erinnert sich Popken. „Als die Missionsleitung bestätigte, dass man die Daten empfangen hatte, waren wir unglaublich erleichtert. Wir wussten, dass wir uns jetzt zeigen konnten.“

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Künstlerische Darstellung der ESA-Sonde „Huygens“ auf dem Titan. Mit freundlicher Genehmigung von ESA und D. Ducros. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Ein Problem in vielen Millionen Kilometern Entfernung

Im Herbst 1997 war Cassini von Cape Canaveral gestartet und hatte dabei die Sonde Huygens mit auf die Reise zum über eine Milliarde Kilometer entfernten Planeten Saturn genommen. Nach dem erfolgreichen Start beschlossen die ESA-Ingenieure, die Zeit bis zur Ankunft zu nutzen, um noch einige Tests am Relais-Empfänger von Cassini durchzuführen.

Anfang des Jahres 2000 begann man mit diesen Tests. Solange dabei vorausgesetzt wurde, dass Huygens und der Cassini-Orbiter während der Mission den gleichen Abstand zueinander beibebehielten, empfing der Empfänger die Daten und konnte sie problemlos interpretieren. Die Ergebnisse genauerer Testläufe lösten allerdings Beunruhigung aus: Sobald die tatsächliche Flugbahn der beiden Sonden und die sich dabei verändernde Geometrie der Sonden zueinander simuliert wurde, ging ein erheblicher Teil der Daten verloren.

Durch die Abbremsung beim Abstieg zum Titan würde sich Huygens mit etwa  5,6 Kilometern pro Sekunde (ca. 20.000 km/h) relativ zu Cassini bewegen. Die  Tests zeigten nun, dass die dadurch verursachte Dopplerverschiebung (s. Kasten die Kommunikation zwischen Huygens und Cassini praktisch zusammenbrechen ließ. Die Huygens-Mission war damit in akuter Gefahr zu scheitern. Durch den Dopplereffekt wurden die Radiowellen der Funksignale komprimiert, was eine schnellere zeitliche Abfolge der Bits und damit eine erhöhte Datenrate bedeutete.

Ein Fehler in der Implementie­rung

Bei der ESA wurde sofort ein Team aus Spezialisten aufgestellt, das die Testergebnisse analysieren und das Verhalten des Empfängers eingehend untersuchen sollte. Man hoffte, das Problem so besser zu verstehen. Auch Popken gehörte zu diesem Team.

Huygens’ Telemetrie-Empfänger basierte auf einer Bauweise, die sich bei früheren Missionen durchaus bewährt hatte. Der Empfänger konnte die auftretende Dopplerverschiebung bei Datenraten von bis zu 2 Kilobits pro Sekunde ausgleichen. Die Datenrate zwischen Huygens und  Cassini betrug allerdings 8 kb/s - sie war also vier Mal so hoch.

Auf Grund eines Implementierungsfehlers ließ der Skalierungsparameter der Embedded Software im Empfänger von Huygens keine Anpassung an höhere Datenraten zu. Dadurch war die Bandbreite des Bit-Synchronisators zu schmal, um die Dopplerverschiebung der bei dieser Mission vorgesehenen Datenrate ausgleichen zu können. Die Tests zeigten, dass sich der Fehler in Form von Phasensprüngen bemerkbar machte und dass dafür ganz bestimmte  Kombinationen dreier Parameter verantwortlich waren: der Verbindungsqualität (ausgedrückt durch das Signal/Rausch-Verhältnis Es/No), der Bit-Übergangsdichte (Pt) und des Frequenzversatzes (Δfs) zur ursprünglichen Symbolrate. Diese Phasensprünge verursachten Fehler bei der Synchronisation, die wiederum zu einer falschen Decodierung und schließlich zu einer Verstümmelung der Daten führten (Abb. 1).

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Abb. 1. Der Bit-Synchronisator im Empfänger konnte die Dopplerverschiebung nicht ausgleichen, wodurch Kommunikationsprobleme entstanden.

Wenn die Ingenieure der  Mission keine Lösung für dieses Problem fanden, musste man damit rechnen, dass etwa 90 Prozent der von Huygens gesammelten Daten verloren gingen.

Vom Testergebnis zum Verständnis des Problems

Popkens Aufgabe bestand darin, ein Modell des Empfängers zu entwickeln, mit dessen Hilfe er das Problem eingrenzen und mögliche Lösungsstrategien vorschlagen konnte. Die Modellierung barg allerdings einige Tücken, denn das Modell musste ja ein System wiedergeben, das nicht so funktionierte, wie es eigentlich sollte. Außerdem musste jedes Detail klar verständlich sein - nicht nur für Popken, sondern auch für seine Kollegen. Und natürlich musste sowohl das Modell als auch dessen Modellierungsumgebung hundertprozentig exakt sein.  

Popken modellierte den fehlerhaften Empfänger in MATLAB. Er bemerkt dazu: „Wir mussten den eingesetzten Gleichungen und Funktionen unbedingt vertrauen können. Ich konnte nicht einfach Blöcke nehmen und einen irgendwie ähnlichen Empfänger daraus zusammenstellen - ich musste alles von Grund auf genau nachbauen. Ich dachte dabei sofort an MATLAB, denn ich musste Gleichung für Gleichung verfolgen können, was passierte. Mit MATLAB kann ich auf einem hohen Abstraktionsniveau arbeiten und gleichzeitig das Modell auf der Gleichungsebene bis ins kleinste Detail ausarbeiten.“

Da MATLAB in der Raumfahrtindustrie sehr verbreitet ist, konnten die Ergebnisse ohne Probleme mit den Entwicklern der Navigationssysteme und der Instrumente oder anderen Arbeitsgruppen ausgetauscht werden. Dazu Popken: „MATLAB hat es allen, die an der Identifikation des Problems beteiligt waren, ermöglicht, das Modell nachzuvollziehen und das eigentliche Kernproblem zu verstehen. Eine Art Black Box, die einfach nur das Verhalten des Systems wiedergegeben hätte, hätte das nicht leisten können. Darum war mir von Anfang an klar, dass MATLAB das beste Werkzeug war, um Daten auszutauschen, zu visualisieren und in einer Form zu präsentieren, die jeder an der eingehenden Prüfung Beteiligte auch wirklich verstehen konnte.“

Verifikation und Validierung des Modells

Popken arbeitete das gesamte Jahr 2000 hindurch an der Weiterentwicklung seines analytischen Modells der Data Transition Tracking Loop (DTTL) des Empfängers. Im Frühjahr und Herbst 2000 wurden Tests mit dem Cassini-Orbiter durchgeführt, die Popken bei der Verfeinerung und Kalibrierung seines Modells halfen. Dazu simulierte das Ingenieurteam das Uplink-Signal von Huygens in einer Bodenstation auf der Erde und übermittelte Testdaten an Cassini. Mit dem Test wurde ermittelt, wie sich die Leistung in Abhängigkeit von den kritischen Parametern Δfs, Es/No und Pt verändert. Die Testergebnisse des realen Empfängers wurden dann mit dem Verhalten verglichen, das das Modell in der Simulation gezeigt hatte.

Im Februar 2001 konnte Popken der Huygens Recovery Task Force (HRTF) sein abschließend verifiziertes und validiertes Modell vorlegen. Das Modell konnte die Phasensprünge im Bit-Synchronisator erklären und die dadurch verursachte Datenverstümmelung exakt nachbiden. Viel wichtiger war jedoch, dass dieses Modell der Task Force auch den Schlüssel zur Entwicklung möglicher Rettungsszenarien lieferte.

Auf dem Weg zu einer Lösung

Die einfachste Lösung des Problems wäre eine Anpassung des Skalierungsfaktors in der Embedded Software des Empfängers gewesen, so dass dieser die Dopplerverschiebung bei höheren Datenraten hätte ausgleichen können. Im ursprünglichen Entwurf des Empfängers konnte der Skalierungsfaktor auch noch während des Fluges per Funk eingestellt werden. Die Behebung des Fehlers wäre dann für die Ingenieure eine Sache weniger Stunden gewesen. Bei der bei Huygens verwendeten Implementierung war dies jedoch nicht möglich, denn man hatte eine ganze Reihe eigentlich frei einstellbarer Parameter, darunter auch den Skalierungsfaktor, „eingefroren“, um die Komplexität des Gesamtsystems möglichst niedrig zu halten.

Auch die Idee, die verstümmelten Daten wiederherzustellen, erwies sich als nicht durchführbar, weil der Relais-Empfänger an Bord von Cassini einen Großteil der Daten ganz einfach verworfen und gar nicht erst zur Erde weitergeleitet hätte.

Zur Rettung der Mission gab es also nur noch eine Möglichkeit: Die Relativ-geschwindigkeit von Huygens und Cassini musste so verändert werden, dass die Dopplerverschiebung des Signals wieder in den Arbeitsbereich des Empfängers gelangte. Bei der ursprünglich für das Abstiegsmanöver vorgesehenen Geometrie wäre die Dopplerverschiebung maximal gewesen: Cassini und Huygens wären praktisch parallel zueinander geflogen, während Huygens die Atmosphäre des Mondes durchquert hätte. Das Team entschied sich daher, die relativen Positionen des Orbiters und der Landesonde radikal zu verändern: Cassini sollte jetzt in erheblich größerer Entfernung an Titan vorbeifliegen als geplant. Durch den viel größeren Winkel zwischen den Bahnen beider Sonden würde die Dopplerverschiebung so weit verringert werden, dass der Empfänger alle Daten fehlerfrei weiterleiten konnte (Abb. 2).

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Abb. 2. Die veränderte Geometrie der Relais-Verbindung.

Die HRTF schloss ihre Arbeit im Juni 2001 ab. Nun war es dem Missionsteam überlassen, die nötigen Veränderungen der Bahngeometrie auszuarbeiten, zu überprüfen und für deren Durchführung zu sorgen.

Ein spektakulärer Sinkflug

Zu Popkens großer Erleichterung sendete Huygens während des Abstiegs im Januar 2005 überwältigende Bilder zur Erde. Die Kameras der Sonde machten über 750 Aufnahmen, die ausnahmslos an Cassini übermittelt werden konnten. Huygens hing für 2 Stunden und 27 Minuten an seinen Fallschirmen und war nach erfolgreicher Durchquerung der dichten Titan-Atmo­sphäre das erste Raumschiff, das auf einem Mond im äußeren Sonnensystem landete.

Der Erfolg der von der HRTF erarbeiteten Lösung ist ohne Zweifel zum großen Teil dem von Popken entwickelten Modell zu verdanken. Er selbst sagt dazu: „MATLAB hat bei dieser Rettungsmission eine ganz zentrale Rolle gespielt. Das analytische Modell hat uns die entscheidenden Informationen zur Umgestaltung des Missionsablaufs geliefert. Erst dadurch konnte der erfolgreiche Empfang der von Huygens beim Abstieg gesammelten Daten sichergestellt werden.“

Die Dopplerverschiebung 

Als „Dopplerverschiebung“ oder „Doppler-effekt“ bezeichnet man die Frequenzveränderung eines Signals beim Empfänger, der sich relativ zum Sender des Signals bewegt. Ein bekanntes Beispiel ist das Phänomen, dass die Sirene eines auf Sie zu kommenden Rettungswagens höher klingt als bei einem stehenden Fahrzeug. Bewegt sich der Wagen von Ihnen weg, klingt sie tiefer.

Ein Menschlicher Vergleich

Die Fähigkeit eines Zuhörers, einen Sprecher zu hören und zu verstehen, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Drei davon sind mit den Systemparametern vergleichbar, die die Kommunikationsverbindung zwischen Cassini und Huygens betrafen:

  • Die Sprechgeschwindigkeit des Sprechers entspricht der Bit-Übergangsdichte (Pt)
  • Die Lautstärke der Hintergrundgeräusche entspricht dem Signal/Rausch-Verhältnis (Es/No)
  • Die Nähe der Sprachfrequenz zur oberen Hörschwelle des menschlichen Gehörs entspricht dem Frequenzversatz ( Δfs)

Genau wie ein menschlicher Zuhörer hatte auch Cassini Schwierigkeiten, Signale richtig zu interpretieren, sobald sie durch die genannten Faktoren bis zu einem gewissen Grad verzerrt waren. Durch die Veränderung der relativen Ausrichtung der beiden Sonden zueinander konnte das Missionsteam den Frequenzversatz aber so weit verringern, dass Cassini und Huygens erfolgreich miteinander kommunizieren konnten.

Veröffentlicht 2006

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